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Ein Tag für die Geneh­migung! (1812)

Ein Jahr später, am 1. Juni 1812, unternahm die jüdische Gemeinde einen erneuten Vorstoß, zu einer eigenen Begräbnisstätte zu kommen. Nathan Metz richtete im Namen der Gemeinde einen flammenden Appell unmittelbar an den neuen Präfekten des Departments, Graf de Lasteyrie du Saillant, der im Münsteraner Schloss residierte:

„Monsieur le Comte,
schon seit mehreren Jahren hat die unterzeichnende Jüdische Gemeinde der Stadt Münster viele Anstrengungen sowohl beim Bürgermeister von Münster als auch bei Herrn von Mylius, dem vormaligen Präfekten, unternommen, um einen Friedhof für ihre Gemeinde zu erhalten, bisher ohne Erfolg. Gegenwärtig sind wir in außerordentlicher Verlegenheit, weil ein Todesfall bei uns stattgefunden hat; das Kind des Herrn Lefmann ist gestern verstorben. Glücklicherweise haben wir seit einiger Zeit eine Regierung, die alle Religionsgemeinschaften ohne Unterschied schützt und sie ihre gottesdienstlichen Angelegenheiten ohne die geringste Beeinträchtigung ausüben lässt. Deshalb müssen wir uns, Herr Graf, der Sie an der Spitze der Verwaltung stehen und dafür bekannt sind, allen berechtigten Klagen Recht zu geben, an Sie wenden, damit Sie Abhilfe schaffen. Wir haben mit jemandem aus der Stadt Münster eine Übereinkunft getroffen, der uns den notwendigen Platz abtritt, welcher sich in genügendem Abstand zur Stadt befindet. Wir bitten Sie inständig, Herr Graf, diese Übereinkunft zu bestätigen. Voller Vertrauen in die Güte, mit der sie die, die sich an Sie wenden, aufzunehmen geruhen, und in die Gerechtigkeit, mit der Sie deren Anliegen wertschätzen, erhoffen sich die Unterzeichnenden eine baldige und positive Entscheidung von Ihnen, Herr Graf, Präfekt.“ (Staatsarchiv Münster, Regierung Münster Nr. 17163, Schreiben vom 1. Juni 1812; Übersetzung aus dem Französischen: M. Th. Wacker).

Wieder war der Fall eingetreten, dass ein Kind gestorben war. Nathan Metz erinnert an die auf der napoleonischen Gesetzgebung gründende neue Gleichberechtigung der Religionen, einen Grundsatz, den er bei dem aus Frankreich stammenden Präfekten in guten Händen sehen möchte.

Noch am gleichen Tag erhielt der Münsteraner Bürgermeister von Boeselager ein Schreiben des Präfekten:

„Monsieur,
die jüdische Gemeinde dieser Stadt bittet mich, ihr einen Friedhof zu bezeichnen, getrennt von den anderen, die vor einigen Jahren für die Katholiken eingerichtet wurden. Da diese Bitte dem kaiserlichen Dekret vom 23. Prairial des Jahres XII konform ist, leite ich Ihnen die Petition weiter und lade Sie ein, entsprechend der Bitte zu bescheiden, vorausgesetzt die Bestimmungen des Art. 2, die besagen, dass die Gelände, die speziell für die Beerdigung von Toten gedacht sind, 35–40 Meter von den Städten entfernt sein müssen, werden eingehalten. Da in der jüdischen Gemeinde gegenwärtig ein Kind verstorben ist, das auf diesem neuen Friedhof bestattet werden soll, ziehen Sie diese Angelegenheit doch bitte vor, und, wenn Sie mir die Petition zurückschicken, berichten Sie mir von den Vorkehrungen, die sie getroffen haben.“ (Staatsarchiv Münster, Regierung Münster Nr. 17163, Schreiben vom 1. Juni 1812; Übersetzung aus dem Französischen: M. Th. Wacker).

Art. 15 des genannten kaiserlichen Dekrets (das angegebene Datum des Revolutionskalenders entspricht dem 12. Juni 1804) hält fest, dass in den Gemeinden, in denen man mehrere Kultgemeinschaften schützt, jede Kultgemeinschaft einen eigenen Beerdigungsort haben muss. Im Fall, dass es nur einen einzigen Friedhof gebe, solle man ihn durch Mauern, Hecken oder Gräben in so viele Teile aufteilen wie es verschiedene Kultgemeinschaften gibt, mit einem eigenen Eingang für jede von ihnen. De Lasteyrie du Saillant dürfte gewusst haben, dass es vor den Toren Münsters mehrere christliche Friedhöfe gab, so dass es ihm recht und billig erschien, wenn auch die jüdische Gemeinde einen eigenen Friedhof erhielt. Offenbar war ihm auch der Zeitdruck bewusst, unter dem die Gemeinde stand.

Von Boeselager reagierte ebenso umgehend wie umsichtig:

„In Ausführung Ihres Schreibens von heute habe ich mich über die Lage der Örtlichkeit informiert, die die jüdische Gemeinde für ihren Friedhof ausgesucht hat. Da er um einiges mehr als 40 Meter von der Stadt entfernt ist und da ich nichts anderes sehe, das zu beachten wäre, habe ich ihr zugesichert, dass sie entsprechend Ihren Anweisungen das tote Kind des Herrn Lefmann begraben können.
Da die Örtlichkeit in der Gemeinde Nienberge liegt, habe ich den Herrn Bürgermeister dieser Gemeinde in Kenntnis gesetzt, der, um sicherzugehen, dass die Beerdigung als außergewöhnliche Angelegenheit in dieser Gegend auf keinen Fall gestört werde, den Konvoi begleiten wird.“ (Staatsarchiv Münster, Regierung Münster Nr. 17163, Schreiben vom 1. Juni 1812; Übersetzung aus dem Französischen: M. Th. Wacker).

Dass sich von Boeselager über die Lage des avisierten jüdischen Friedhofs erst informieren will, könnte darauf hinweisen, dass der Vorgang beim Wechsel im Bürgermeisteramt in Vergessenheit geraten war. Er sieht jedenfalls kein Hindernis der Beisetzung des Kindes stattzugeben. Vorsorglich informiert er seinen Amtskollegen in der Nachbargemeinde, der bereit ist, mit der Autorität seiner Person den Leichenzug zu schützen – offenbar gehen die Stadtvertreter davon aus, dass Übergriffe vonseiten „guter Christen“ auf die Trauergemeinde nicht auszuschließen sind.

Innerhalb nur eines Tages kann nun unter dem neuen Präfekten zugunsten der jüdischen Gemeinde geregelt werden, was unter dem alten über mehr als ein Jahr hinweg nicht gelang. De facto stand demnach zwar schon Mitte des Jahres 1811 fest, welches Grundstück der jüdischen Gemeinde zur Verfügung gestellt werden sollte, die eigentliche amtliche Zuweisung, die die Möglichkeit erschloss, dort Bestattungen durchzuführen, erfolgte aber erst Mitte 1812. Wenn Jahrzehnte später der Vorstand der Synagogengemeinde Münster in seinem Antrag vom 11. August 1886 um Erlaubnis zur Erweiterung des Friedhofes davon spricht, dieser werde seit 1811 benutzt, ist wohl vor allem das Einverständnis mit dem Bürgermeister sowie die Ablösungszahlung an Lutterbeck in Erinnerung geblieben, nicht aber die verzögerte Genehmigung des Präfekten.

Das Gelände des jüdischen Friedhofs am Weg nach Coesfeld (heute: Einsteinstraße/Ecke Försterstraße) umfasste anfangs das heute rechts des Hauptwegs gelegene Areal bis vor die Trauerhalle.

Ungedruckte Quellen

Die Darstellung beruht auf folgenden (ungedruckten) Quellen:

Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur, Fach 36,1–8

Staatsarchiv Münster, Regierung Münster Nr. 17163

(zusammengestellt von Marie-Theres Wacker)